Sinn-Suche: Neujahrsgrüße im September
„Schana Towa Umetuka" – ein gutes und süßes Jahr!
Neujahrsgrüße im September? Bevor Sie mich für verrückt erklären: Ich spreche natürlich vom jüdischen Neujahrsfest, Rosch Haschana genannt, das wir gerade an den vergangenen beiden Tagen begangen haben. Die jüdischen Feiertage richten sich nach dem jüdischen Kalender, und danach hat am Montag das Jahr 5776 begonnen.
Nachbarn der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg werden sich jetzt vielleicht fragen, ob sie das Knallen von Raketen oder Sektkorken überhört haben. Ich kann Sie beruhigen: Sie haben in dieser Hinsicht nichts verpasst. Denn Rosch Haschana hat mit Silvester ungefähr so viel gemein wie ein veganer Tofu-Bratling mit einem Schweinebraten.
Rosch Haschana, was auf Hebräisch „Kopf des Jahres" bedeutet, steht für uns am Anfang einer Reihe von zehn Bußtagen, die in den Versöhnungstag, Jom Kippur, münden, dem höchsten jüdischen Feiertag. In diesen Tagen sollen wir Bilanz ziehen und selbstkritisch auf unser Handeln im zurückliegenden Jahr blicken. Habe ich meinen Beitrag geleistet, um die Welt ein Stückchen besser zu machen, wie ein zentrales jüdisches Gebot lautet? Und wie habe ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalten? Erst wenn wir Menschen uns versöhnen, wird auch G'tt uns verzeihen.
Viele Riten und Traditionen erinnern uns an die Bedeutung dieser Feiertage. An Rosch Haschana besuchen wir die Synagoge, wo im G'ttesdienst das Schofar, das Widderhorn, geblasen wird. Es soll an die Erfüllung der Gebote der Tora erinnern. Nach dem G'ttesdienst gibt es zu Hause ein festliches Mahl: Dabei werden Apfelstücke in Honig getaucht. Auch das für den Schabbat übliche Brot, die Challa, wird in Honig getaucht – als Symbol für ein süßes Jahr. Gerne werden Granatäpfel serviert – auf dass wir so viel Gutes erfahren und so viele gute Taten vollbringen wie ein Granatapfel Samen hat.
Jom Kippur hingegen ist ein strenger Fastentag, an dem die große Mehrzahl der Juden, selbst säkulare Juden, die Synagoge besuchen. Das jüdische Neujahrsfest und die darauffolgenden Tage haben also nicht viel mit einer lauten und bunten Silvesterparty zu tun, sondern viel mehr mit Einkehr und Umkehr.
Darüber vergessen wir aber nicht, zuversichtlich und mit Vertrauen auf G'tt nach vorne zu blicken – eine Eigenschaft, die dem jüdischen Volk tief innewohnt. Und so wünschen wir uns gegenseitig an Rosch Haschana ein gutes und süßes Jahr ohne Bitterkeit. Und dies wünsche ich auch Ihnen – mitten im September!
Der Autor Dr. Josef Schuster ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland