Der neunte Tag des Monats Aw, der Tischa beAw, ist im Jüdischen ein Tag der Trauer. An diesem Tag erlebt man, dass auch viele eher weniger religiöse Juden sich an die Regeln des Trauerns halten. Sie fasten unter anderem und verbringen einen gesamten Tag der inneren Einkehr ohne „vergnügliche Aktivitäten“. Denn, der Tag, der im gregorianischen Kalender in diesem Jahr auf den 27. Juli fiel, ist für Juden eine Art Schicksalstag.
Im Zentrum steht die Tragödie der zweifachen Zerstörung des Jerusalemer Tempels – beide Male am neunten Aw. Diese Geschichte ist eine Geschichte des Exils, aber auch der Heimkehr. In der Nacht des neunten Aw kommt in der Synagoge die Gemeinde zusammen, um gemeinsam den vorletzten Vers der Klagelieder des Propheten Jeremia zu sprechen. Darin lesen wir über das babylonische Exil nach der Zerstörung des Ersten Tempels: „Kehre uns, H‘rr, Dir zu, dann können wir uns zu Dir bekehren. Erneuere unsere Tage, damit sie werden wie früher.“ Mir gefällt an diesem Vers vor allem die zweite Hälfte: der Glaube an eine bessere Zukunft.
Nun sind Exil und Vertreibung keine weit entfernten Phänomene. Es gibt sie auch in unserer modernen Zeit. Dabei sind häufig auch Juden betroffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die jüdischen Gemeinschaften in der arabischen Welt einen Niedergang, der hierzulande nur selten beachtet wird. Von einst mehr als 700.000 Juden gibt es heute in diesen Ländern schätzungsweise nur noch weniger als 4.000. Die meisten gingen nach Israel.
Auch in Westeuropa erleben wir in den letzten Jahren einen Druck auf die jüdische Bevölkerung. In Frankreich ist das Thema der Emigration bereits deutlich ausgesprochen und die jüngsten Unruhen in dem Land haben wiederholt auch antisemitische Wesenszüge.
In Deutschland werden Juden vermehrt gefragt, ob sie denn nicht ans Auswandern denken. Ich kann in einer solch persönlichen Frage nur für mich sprechen, aber ich frage mich in diesen Momenten schon zuweilen, was mir diese Frage sagen soll? Ja, der Vormarsch des Populismus in unserem Land macht mir Sorge. Er treibt einen Keil in die Gesellschaft und das war für Juden nie gut. Ja, die Angriffe auf Synagogen, rechtsextreme Terrorakte wie Halle machen mich bestürzt, genau wie dass man in einigen Stadtteilen mit großem Anteil von Bewohnern mit arabischem Migrationshintergrund seine Kippa lieber nicht offen trägt.
Aber auswandern, nein. Wem tue ich hier einen Gefallen? Die Heimat der deutschen Juden ist Deutschland. Ich bin stolz, dass das für viele Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft fast 80 Jahre nach der Schoa wieder zur Selbstverständlichkeit wird.
Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland