Haben sie auch ihr Halskettchenkreuz abgelegt, die Konfirmationsbibel weggeworfen, die geschnitzte Madonna im Flur zugedeckt, die Christusikone von der Wand genommen, diejenigen, die ihren Kirchenaustritt vor einem kommunalen Verwaltungsangestellten erklärt haben? Aus der griechischen Perspektive wirken die panischen Diskussionen über bedrohliche Schrumpfungen und notwendige Kurskorrekturen reichlich hilflos und unverständlich. Auch die griechisch-orthodoxe Kirche ist eine Volkskirche, jedenfalls in ihrem Heimatland, und kennt das völlig normale Phänomen der sehr großen Bandbreite von Kirchenaktivität. Aber niemand würde sich verabschieden oder den Glauben absprechen lassen, der sich nur selten in der Kirche blicken lässt. Jedem Griechen ist irgendwie bewusst, dass sein Glaube nicht privat, sondern gemeinschaftlich ist und dass man zumindest am Karfreitag unter dem Grabtuch Christi hindurchgehen will und das Osterfest mit gegrillten Lämmern auf dem Dorfplatz oder im Garten bei Freunden kaum feiern kann, wenn man nicht in der Osternacht seine Osterkerze in der Kirche anzünden ließ und das „Christus ist auferstanden“ gehört und beantwortet hat. Vielleicht kommt ein griechischer Gastwirt aus Deutschland, der vor allem am Wochenende rund um die Uhr arbeitet, nur im Urlaub dazu, in seiner Heimat einmal eine Kerze in einer Kapelle beim Vorbeifahren aufzustecken und eine Ikone am Wallfahrtsort zu verehren, aber er weiß, dass er zu der Gemeinschaft der Gläubigen dazugehört, die er auch bei noch so großer persönlichen Passivität nicht verlassen würde, solange er sich irgendwie als Christ bezeichnet.
Eine Tragik in Deutschland ist sicherlich, dass sich jemand nicht zunächst als Christ, sondern als Konfessionsmitglied definieren muss, schon im Kindergarten und im Religionsunterricht. Die heutigen ökumenischen Beziehungen haben das Problem nicht erleichtert, wenn alles nicht nur als gleich-wertig, sondern auch als gleich-gültig empfunden wird. Aber trotzdem sollte sich jeder, der bereits aus seiner Kirchensteuergruppe ausgetreten ist oder noch austreten will, ehrlich fragen, wohin er künftig gehen will. Weggehen ist nur die eine Seite der Angelegenheit und löst nichts, wenn man nicht weiß, wohin man gehen will. Denn Kirchenaustritt ist wohl in den seltensten Fällen ein Abschwören des Christentums. Doch wird dieses immer mehr als eine persönliche Weltanschauung angesehen, weil das „Ich und mein Gott“ als ein Privatverhältnis betrachtet wird. In Vergessenheit gerät, dass das Verhältnis Gottes zu den Menschen immer gemeinschaftlich ist, angefangen beim Volk Gottes Israel über die Gruppe der Apostel und Jünger bis zur Verheißung Christi, dass er da anwesend ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Stellt sich nur die Frage, wo sich die Glaubensgemeinschaft, christliches Leben und Heimat, also Kirche finden lässt.
Erzpriester Martinos Petzolt ist griechisch-orthodoxer Pfarrer der Gemeinde „Drei hl. Hierarchen“ von Würzburg und Unterfranken.