Du sollst dir (k)ein Bild machen
Kann ich mir ein Bild von Gott machen?
Im Alten Testament hat Gott geboten: Nein! Du sollst dir kein Bild von mir machen!
Vor 2000 Jahren hat Jesus Christus in dieser Welt gelebt. Seine Zeitgenossen konnten ihn sehen, hören, mit ihm sprechen, ihn berühren. Das Neue Testament erzählt uns davon. Man hätte ihn fotografieren können, wenn das damals möglich gewesen wäre.
Uns heute ist eine solche sinnenhafte Begegnung mit Jesus Christus nicht mehr möglich. Wir Christen bekennen ihn als wahren Gott und wahren Menschen und suchen den Kontakt mit ihm im Gebet und in den Sakramenten. Aber auch wir haben den Wunsch: Lass mich Dein Angesicht schauen!
In diesem Jahr wird wieder das „Turiner Grabtuch“ ausgestellt: Ein uraltes Leinen, 4,40 m lang und 1,10 m breit. Auf ihm ist das schattenhafte, lebensgroße Abbild eines Mannes von seiner Vorder- und Rückenansicht zu erkennen. Millionen Pilger strömen nach Turin, auch viele orthodoxe Christen, darunter die Verfasserin dieser Zeilen. Die orthodoxe Kirche kennt Darstellungen von Christus, die dem Bild auf dem Grabtuch verblüffend ähneln und die aus alter Zeit stammen, lange bevor das Tuch im Westen auftaucht (1357). Vieles deutet darauf hin, dass es zuvor im Osten aufbewahrt und von den Christen dort hoch verehrt wurde.
Was für ein Bild begegnet mir da als Pilger? Es ist das Bild eines Mannes, der gefoltert wurde, dessen Körper mit Geißelhieben überzogen und dessen Kopf mit Dornen verletzt war, dessen Hände und Füße mit Nägeln durchbohrt waren und dem eine große Wunde in der Seite zugefügt wurde. In anatomischer Genauigkeit, hat die Rechtsmedizin festgestellt, sind alle Merkmale einer Kreuzigung erkennbar, wie sie die Evangelien von Jesus beschreiben. Doch wird die Wissenschaft auch mit modernsten Methoden nicht beweisen können, ob das Tuch wirklich den Leichnam Jesu im Grab eingehüllt war.
Was kann mir das Tuch-Bild sagen, trotz aller offener Fragen?
Ich soll mir ein Bild machen: So sieht ein Mensch aus, der gefoltert und getötet wurde wie Jesus Christus. Die Bilder der Medien führen es uns vor Augen: Bis heute werden, gerade auch in den Kirchen des Ostens, Menschen wegen ihres christlichen Glaubens auf ähnliche Weise zu Tode gebracht. Sie bekennen sich zu Christus, obwohl sie wissen, was ihnen droht. Denn als Christen sind wir sicher, dass das Leid nicht umsonst und der Tod nicht das Ende ist.
Carolina Lutzka ist orthodoxe Theologin und
Mitarbeiterin der russ.-orthodoxen Kirche Würzburg
und des Ostkirchlichen Instituts