Das vergessene Namensschild
Ein befreundeter Pastoralreferent, der als Schulseelsorger in der Schweiz an einer kantonalen Mittelschule - diese entsprichtunseren Gymnasien - tätig ist, erzählte mir vor längerer Zeitvon einem Erlebnis, das er zuvor hatte: Anlässlich der alljährlichen Personalversammlung der kirchlichen Mitarbeiter im Kanton waren die Schulseelsorger eingeladen, ihre Arbeit vorzustellen und diese Begegnung für die über hundert Anwesenden (noch in Vor-Corona-Zeiten) zu gestalten. Für jeden Teilnehmer gab es ein Schildchen mit Namen und Berufsbezeichnung, um nicht nur die bekannten, sondern auch die einem noch unbekannte Personen mit Namen ansprechen zu können, denn darauf wird besonders in der Schweiz großer Wert gelegt. Es war, so erzählte mein Freund, ein reger Austausch und ein gelungener Abend. Als einer der Letzten machte er sich schließlich auf den Heimweg.
Im Bus nach Hause nahm ein Mann mittleren Alters ihm gegenüber Platz. Plötzlich sprach dieser ihn an: „Was ist denn ein Mittelschulseelsorger?“ Mein Freund sah ihn ein wenig perplex an und fragte ihn, woher er ihn kenne bzw. das wisse: „Na, das steht auf ihrem Namensschild!“ „Oh,das habe ich vergessen abzunehmen“, antwortete er etwas verlegen. „Nein, erklären sie mir doch bitte, was ein Seelsorger in einer Mittelschule zu suchen hat“, beharrte sein Gegenüber mit einem wahrnehmbar kritischen Unterton. Und so herausgefordert stellte er ihm seine Tätigkeit kurz vor, dienicht nur im Unterricht für interessierte Schüler gleich welcher Konfession und Religionbesteht, sondern auch das Angebot eines offenen Raums der Begegnung, Beratungs- und Freizeitangebote, sowie Wochenenden und Reisen mit den Schülerinnen und Schülern umfasst. Als der Mann schließlich seine Haltestelle erreicht hatte, meinte er: „Eigentlich bin ich aus der Kirche ausgetreten nach all dem… Aber was sie mir erzählen, macht mir wieder Hoffnung“. Dann stieg er aus und meinem Freund, so erzählte er mir,ging nach dieser Begegnung der Gedanke durch den Kopf: Viele wissen zu wenig von dem, was Kirche eigentlich Gutes tut…
Derzeit stoßen sich viele Menschen an der Kirche und das zu Recht.Ich möchte die offensichtlichen Missstände in kleiner Weise entschuldigen. Beides ist unbestreitbar Teil der Wirklichkeit: Das Böse, das unter dem Deckmantel der Kirche geschieht, und das Gute, das die Kirchen und kirchlichen Einrichtungen bewirken. Das Eine darf nicht, wie geschehen, vertuscht werden, damit das Andere nicht seiner Wirkung beraubt und die Botschaft Jesu nicht verdunkelt wird.Denn ich bin überzeugt, dass das lebendig und glaubwürdig gelebte Evangelium einen unverzichtbaren Beitrag zu unserer Gesellschaft leistet. Und es lässt mich hoffen und staunen, wie doch ein vergessenes Namensschild zu einer interessanten Begegnung und zum Nachdenken führen kann.
Matthias Lotz, katholischer Pfarrer in Höchberg