Beitrag des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, für „Sinn & Religion“, Main-Post vom 16. September 2016
Das Leben ist eine Baustelle
In wenigen Wochen ist es soweit: Am Abend des 16. Oktober beginnt unser Laubhüttenfest Sukkot. Wenige Tage zuvor errichten Juden überall auf der Welt – auch auf dem Gelände des Jüdischen Gemeindezentrums in Würzburg – eine Hütte aus Holz und Laub: Die Sukka, nach der auch das Fest benannt ist. „Nimm schnell Hammer und Nagel und baue eine Sukka“, singen die Kinder in einem bekannten hebräischen Lied. Wer kurz vor den Sukkot-Feiertagen in Israel ist, kann vor allem in religiösen Vierteln beobachten, wie überall gehämmert und gebastelt wird, um die Holzbalken und das Dach richtig anzubringen und die Sukka festlich zu schmücken. Und viele, die keinen Garten und keinen Innenhof haben, bauen sich wenigstens eine kleine Laubhütte auf ihrem Balkon.
Wer das Entstehen einer Sukka einmal beobachtet hat, könnte sich an einen Filmtitel aus den 1990ern erinnert fühlen: „Das Leben ist eine Baustelle“. Laubhütten sind provisorische Behausungen: Sie sollen uns daran erinnern, wie die Israeliten einst in der Wüste lagerten – ohne zu wissen, wann sie jemals in ihrem Land ankommen würden. Gerade in diesem Jahr ist das Sukkot-Fest eine gute Gelegenheit, sich zu fragen: Was in unserem Leben ist Provisorium? Und was soll Bestand haben? Im vergangenen Jahr sind mehr als eine Million Flüchtlinge zu uns gekommen, und viele sind noch auf gefährlichen Wegen unterwegs. Uns Juden erinnert das an die Zeit, als auch wir kein festes Haus hatten, sondern unter freiem Himmel in der Wüste lagern mussten.
Wir fragen uns aber auch: Wie schaffen wir es, der zunehmenden Hetze gegen Fremde in unserem Land entgegenzuwirken und dafür zu sorgen, dass das politische Klima nicht weiter vergiftet wird? Und was soll mit den Menschen, die zu uns gekommen sind, passieren? Werden sie dauerhaft bei uns bleiben, oder werden sie in ihre Heimat zurückkehren, wenn dort wieder Frieden herrscht?
„Sieben Tage lang sollt ihr in Hütten wohnen. Alle Einheimischen in Israel sollen in Hütten wohnen, damit eure kommenden Generationen wissen, dass ich die Kinder Israels in Hütten wohnen ließ, als ich sie aus Ägypten herausführte – ich, der Ewige, bin euer Gott.“ So steht es geschrieben in der Tora, im 4. Buch Mose. Daran halten wir uns bis heute: Am Sukkot-Fest sitzen wir eine Woche lang so oft wie möglich in unseren Laubhütten und laden Freunde und Familie zu geselligen Festessen ein. Wir Juden wollen an Sukkot gemeinsam feiern und anderen helfen, aber gleichzeitig unsere eigenen Anliegen nicht aus den Augen verlieren. Und wir hoffen, dass auch Sie in diesen Herbsttagen die Gelegenheit finden, über gemeinsame Baustellen in unserem Leben nachzudenken und sich klarzumachen, dass es uns immer noch sehr gut geht – und dass wir trotz allem die Kraft haben, uns für diejenigen einzusetzen, die kein festes Haus haben – aber auch für Frieden und Toleranz innerhalb unserer Gesellschaft.
Der Autor Dr. Josef Schuster ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.